Überliberalisierung zurückdrehen
Andreas Huss zur Situation der medizinischen Versorgung
Grundlage der solidarischen sozialen Krankenversicherung ist der Zusammenschluss der Versicherten die über die gemeinsame Organisation der Krankenversicherung (jetzt ÖGK) günstige Behandlungstarife ausverhandelt.
Deshalb gibt es bei Kassenärzt*innen fixe Honorare, Mindestordinationszeiten, gewisse Regeln und Rahmenbedingungen, die im Auftrag der Beitragszahlenden mit der Ärztekammer vereinbart sind und ausschließlich evidenzbasierte Medizin nach strikt wissenschaftlichen Grundlagen erbringen.
Wahlärzt*innen unterliegen diesen Regeln nicht und haben alle Freiheiten bei Arbeitszeiten, Honorargestaltung und erbrachten Leistungen. Sie sind nicht an die vereinbarten Honorare der Krankenversicherungsträger gebunden und können die Höhe ihrer Honorare frei bestimmen.
Die Wahlärzt*innen behandeln also Privatpatient*innen, die für ihre Behandlung selbst bezahlen. Wenn bei den Wahlärzt*innen Leistungen aus dem Katalog der Krankenversicherung erbracht werden, können dafür von dieser 80 Prozent des Vertragspartnertarifs als Kostenerstattung beantragt werden.
In den letzten Jahren entstand in einer immer wohlhabenderen Gesellschaft ein wachsender Markt für die Privatmedizin. Auch Angebote abseits evidenzbasierter bzw. wissenschaftsorientierter Medizin, die eher unter esoterische Behandlungsmethoden fallen, wurden relevanter. Der private Sektor dürfte mittlerweile so attraktiv sein, dass trotz sehr guter Einkommen der Kassenärzt*innen (durchschnittlich 180.000 Euro nach Kosten vor Steuer, also rund 7.000 Euro netto monatlich), der Andrang auf Kassenverträge zurückgegangen ist.
Dennoch konnte die ÖGK im letzten Jahr fast 700 der rund 10.000 Kassenarztstellen neu besetzen. In den kommenden Jahren steht eine große Pensionierungswelle der Boomer-Generation bei Kassenärzt*innen an, was einen großen Bedarf an Nachkommenden zur Absicherung der Kassenversorgung hervorruft.
Österreichs Gesundheitssystem ist im OECD-Vergleich im oberen Drittel, was private Zuzahlungen zu Gesundheitsleistungen anbelangt. Das war von der türkis/blauen Bundesregierung auch ausdrücklich gewünscht. Der Plan war, dass private Krankenversicherungen, Spitäler und Ärzt*innen mehr Mittel aus dem Topf der Versicherten bekommen und somit immer mehr Menschen in die Privatmedizin gedrängt werden.
In der Zeit der kommunizierten „Ärzteschwemme“ in den 1990er Jahren waren in der Ärztekammer ca. 20.000, heute im kommunizierten „Ärztemangel“ sind ca. 47.000 Mitglieder in der Ärzteliste eingetragen. Österreich hat damit eine der höchsten Ärztedichten der Welt. Von den etwa 11.000 Wahlärzt*innen arbeiten nur ca. 900 so, dass sie relativ versorgungswirksam sind (hauptsächlich Gynäkologie und Internisten). Sehr viele Ärzt*innen arbeiten also trotz öffentlich finanzierter Ausbildung (400.000 bis 600.000 Euro für eine fertige Ausbildung) nicht bei der niederschwelligen Versorgung für alle mit.
Daher muss der Bund gemeinsam mit Ländern und Sozialversicherung neue Wahlarztregeln umsetzen, die das Sachleistungssystem stärken bzw. seine Aushöhlung verhindert. Dabei soll fixiert werden, dass Wahlärzt*innen die mit Kostenerstattung tätig sein wollen, definierte Pflichten zu erfüllen haben.
Die wichtigste Pflicht ist die Anbindung an das e-card-System, e-Rezept und ELGA, damit Patientensicherheit gegeben ist und die Ärzt*innen sowohl Einsicht in frühere Behandlungen haben als auch ihre eigenen Behandlungsschritte dokumentieren. Im Sinne des Konsumentenschutzes sollen Wahlärzt*innen gegenüber den Patient*innen in den Rechnungen klar ersichtlich machen müssen, welche Leistungen Kassenleistung sind und welche Leistung rein privat ist.
Wahlärzt*innen sollen auch zur elektronischen Weiterleitung der Honorarnoten an die Kassen verpflichtet werden. Derzeit kommt noch jede dritte Wahlarztrechnung handschriftlich zur Einreichung. Auch die Mitwirkung an Bereitschaftsdiensten und öffentlichen Impfprogrammen sowie Einhaltung von Ökonomiegeboten bei der Medikation soll verpflichtend werden. Ebenso sollen Mindest-Öffnungszeiten definiert werden. Sind sie dazu nicht bereit, können sie im niedergelassenen Bereich nur als Privatärzt*innen (also ohne Kostenerstattung, Rezepturrecht usw.) tätig werden.
Mit dem Zurückdrängen der Überliberalisierung soll der Zug zu Kassenverträgen verstärkt werden, denn der Kassenvertrag ist ein gutes und sicheres Geschäft für Ärzt*innen und Versichertengemeinschaft. In Ländern, in denen die Ärztekammer den Kassenvertrag aktiv bewirbt, sind nahezu alle Kassenstellen besetzt. Ein solidarisches Gesundheitssystem braucht solidarische Gesundheitsdienstleister. Wo der Kassenvertrag von der regionalen Ärztekammer schlechtgeredet wird, haben wir Probleme.
Andreas Huss ist Gewerkschafter und Mitglied des Verwaltungsrates der Österreichischen Gesundheitskasse
Cartoon: Karl Berger