Schwachstelle Betrieb
Folgen wir konkreten Erhebungen der Statistik Austria, ist knapp die Hälfte der österreichischen Gesamtbevölkerung unselbstständig erwerbstätig. Wie werden die Arbeitsbedingungen dieser Angestellten, Arbeiter:innen und anderer Gruppen ganz konkret erlebt? Solche Fragen stehen bislang bestenfalls am Rand medialer und politischer Debatten.
Mit Schaffung des Arbeits- und Sozialrechtes – als vermeintlicher Klassenkompromiss – hat die Gesetzgeberin zumindest prinzipiell bereits erkannt, dass die Arbeitnehmer:innen eine schützenswerte, auch organisatorisch schwächere Position im Verhältnis Arbeit zu Kapital einnehmen. Weshalb sollen wir trotzdem diesen Themenkomplex in das politische Zentrum der Auseinandersetzungen rücken?
Fast nirgendwo verbringen wir so viel Zeit wie am Arbeitsplatz. Covid-19 hat den Arbeitsplatz sogar wieder stärker mit dem Wohnen verknüpft, Stichwort Homeoffice. Analog zum Mietrecht unterliegt das Arbeitsrecht einer starken Zersplitterung und Fragmentierung. Gleichwertiger Arbeit fehlt tatsächlich die gleiche Wertschätzung.
Fest steht: Eine fehlende demokratische Praxis in der Arbeitswelt betrifft sehr viele Menschen auf negative Art und Weise. Sie lässt unsere bisher erkämpfte Demokratie als unvollständig zurück. Sollen unsere Bürger:innenrechte am Büroschreibtisch oder Fabrikstor enden?
Von diesen Fragestellungen abweichend entstand im politischen Diskurs über viele Jahrzehnte der Eindruck, die institutionalisierte Sozialpartnerschaft habe eine weitestgehend faire Arbeitswelt mit betrieblicher Mitbestimmung etabliert. Wie ist diese große, politische Erzählung in einer Kurzanalyse einzuschätzen?
Blick von unten
Im Jahr 2016 wurde durch die AK Oberösterreich erhoben, dass bundesweit nur noch 49 Prozent der unselbstständig Beschäftigten von einem zuvor ihrerseits errichteten Betriebsrat vertreten werden. Diese Entwicklung liegt im europaweiten Trend: In Deutschland verfügen nur neun Prozent aller betriebsratsfähigen Betriebe tatsächlich über einen solchen, wodurch aber immerhin noch 41 Prozent der Beschäftigten vertreten werden.
Primär finden sich Betriebsratskörperschaften in der öffentlichen Verwaltung und privatwirtschaftlich geführten Betrieben aus zumindest vormals öffentlichem Eigentum, letzteres besonders in Energiewirtschaft, Banken, Gewerbe oder Industrie. In den dazu vergleichsweise Niedriglohnsektoren – Tourismus (14 Prozent) oder Handel (29 Prozent) – steht der Betriebsrat bereits auf der roten Liste der bedrohten Arten.
Daraus folgt, dass die Mehrheit der Beschäftigten am Arbeitsplatz ohne gesetzlich vorgesehene Interessensvertretung auskommen muss. Dort, wo es Betriebsräte ehesten bräuchte, fehlen sie am häufigsten. Die Gesetzgeberin beauftragt die unselbstständig Erwerbstätigen in Österreich ab fünf stimmberechtigten Arbeitnehmer:innen einen Betriebsrat zu errichten. Diese Betriebe werden als „betriebsratspflichtig“ bezeichnet, auch wenn tatsächlich (noch?) kein Betriebsrat errichtet wurde.
In der Praxis scheitern Beschäftigte bei Neugründungen eines Betriebsrates an Lücken im gesetzlich definierten Kündigungsschutz. Die Anfechtungsmöglichkeit eines verpönten Motives, erst im zeitlichen Nachhinein, ist im zeitkritischen Prozess einer Betriebsratserrichtung in der Praxis höchst unzureichend. Die Gesetzgeberin erwartet lebensfremd die rasche Mitwirkung der Betriebsinhaberin im stark formalisierten Wahlprozess. Ersatzweise kann die Drohung von Kündigungen, einer Betriebsliquidierung oder eines Betriebsüberganges die Arbeitenden disziplinieren.
Besteht bereits ein Betriebsrat, stehen den Betriebsinhaber:innen zahlreiche Herrschaftsinstrumente zur Verfügung, um in einem „Menü aus Grauslichkeiten“ die Effektivität einer konsequenten Interessensvertretung zu schwächen. Am Ende einer versuchten Betriebsratsgründung kann immer noch der Verlust des Arbeitsplatzes stehen, was für viele Arbeitnehmer:innen der nicht besitzenden Klasse eine Existenzbedrohung mit sich bringt. Fachgewerkschaften des ÖGB leisten den Arbeitnehmer:innen großartige fachliche und organisatorische Unterstützung, können in letzter Konsequenz bislang aber keine gesellschaftliche Hegemonie und Kampagnenhoheit über weitgehend sanktionslose „Betriebsratsfresser“ erreichen.
Vom Rand ins Zentrum
Der Erfolg von Sozialpartnerschaft wird politisch sehr oft mit der fast flächendeckenden Abdeckung der Arbeitsverhältnisse durch Kollektivverträge dargestellt. Vergessen wird dabei, dass viele verankerte Beteiligungsrechte die Existenz eines Betriebsrates voraussetzen. Nur ein solcher kann im Betrieb kollektiv geltende Betriebsvereinbarungen abschließen, die Außenwirkung entfalten. Zwei wesentliche Ausnahmen bestehen: Beim Kündigungsschutz und bei der Mitbestimmung bei Kontrollmaßnahmen wurde bislang eine Individualisierung vorgenommen.
Ob alle Rechtsbestimmungen tatsächlich eingehalten werden, können gesetzlich geschützte Betriebsratsmitglieder konkret überwachen. Beim aufgrund der Profitmaximierungstendenzen immer häufigeren Personalabbau kann der Betriebsrat – unter bestimmten Voraussetzungen – einen Sozialplan auch einseitig erzwingen, der steuerliche Begünstigungen für die Arbeitnehmer:innen bei finanziellen Abschlagszahlungen beinhaltet. Voraussetzung dafür ist das Rechtsinstrument der Betriebsvereinbarung. Selbst der gnädigste Betriebsinhaber kann keine Betriebsvereinbarung mit diesen steuerlichen Vorteilen abschließen, wenn er keinen errichteten Betriebsrat als Gegenüber hat. Dies als Veranschaulichung, dass selbst unsere aktuelle Gesetzeslage gegen die Beleidigung der arbeitenden Menschen mit dem Storytelling „Als Chef bin ich selbst der beste Betriebsrat“ spricht.
Auf Betriebsebene unlösbar
Der von der AK Wien beauftragte „Strukturwandelbarometer“ dokumentiert, in Zusammenarbeit mit einem renommierten Meinungsforschungsinstitut, seit vielen Jahren die Stimmungslage in österreichischen Betrieben, aus Sicht der demokratisch gewählten Betriebsratsvorsitzenden.
Zu berücksichtigen ist dabei, dass sich die Auswahl der Befragten nicht aus den per Gesetz formal betriebsratspflichtigen Betrieben ergeben kann, sondern aus jenen Betrieben, in denen die Arbeitenden tatsächlich erfolgreich die Einrichtung eines Betriebsrates durchgesetzt haben.
Genau diese gut organisierte Gruppe von Betriebsratsvorsitzenden hat bereits vor der Covid-19 Pandemie über die negativen Auswirkungen der Digitalisierung in „ihren“ Betrieben folgendes Bild gezeichnet:
– Überwachungs-/Kontrollmöglichkeit der Kolleg/innen durch Dienstgeber (65 Prozent)
– Arbeitsbelastung oder Arbeitsverdichtung allgemein (58 Prozent)
– Abgrenzung zwischen Beruf und Privatleben (56 Prozent)
– Situation älterer Beschäftigter im Betrieb (52 Prozent)4
Aus eigener Forschung durch den Autor dieses Beitrags vervollständigt sich das Bild: Selbst die kompetentesten und am besten organisierten Betriebsräte in Österreich sehen überwiegend die Notwendigkeit ergänzender gesetzlicher Schutzmaßnahmen, weil all diese Probleme auf Betriebsebene nicht mehr zu lösen sind.
Für das Jahr 2022 hat der Strukturwandelbarometer für ein großes Sample von 1.389 befragten Betriebsräten ergeben, dass 68 Prozent seit Beginn der Covid-19 Krise eine negative Entwicklung beim Arbeitsdruck in den Betrieben sehen. Für das Arbeitsklima sehen 48 Prozent eine Verschlechterung, bei der Führungskultur sind es 40 Prozent. Nur fünf Prozent sehen beim Arbeitsdruck eine Verbesserung, beim Arbeitsklima sind es 16 Prozent. Die Führungskultur hat sich nur für 19 Prozent der Befragten verbessert.
Kurzausblick: Hin zum Gesetz
Der Bruch des Arbeitsrechtes bleibt in sehr vielen Fällen sanktionslos. Zwar wurde im Vorfeld der EU-Arbeitnehmer:innen-Freizügigkeit in Österreich ein Lohn- und Sozialdumping Bekämpfungsgesetz (LSD-BG) geschaffen. Dieses wurde jedoch bereits stark durchlöchert. Seine Anwendung ist für die arbeitenden Menschen äußerst intransparent.
Wenn Arbeitnehmer:innen ihre berechtigten, finanziellen Forderungen durchsetzen wollen, hindern kurze Verfalls- und Verjährungsfristen sie daran. Oft muss nur nachgezahlt werden, was bei korrekter Anwendung des Arbeitsrechtes ohnehin fällig war. Bei Gericht herrscht hoher Vergleichsdruck, wodurch selten Verzugszinsen zu entrichten sind.
Besonders ärgerlich erscheint, dass sich korrekt verhaltende Arbeitgeber:innen einem Wettbewerbsnachteil gegenüber jenen ausgesetzt sehen, die es mit dem Recht – mangels ausreichender Sanktionen – nicht so genau nehmen. Eine „Kultur der Wurstigkeit“ zu Lasten der Fairness belohnt genau die Falschen. Die vorsätzliche, wissentlich und wiederholt begangene Umgehung des Arbeitsrechtes muss ein Straftatbestand werden. Dies gilt auch für die Behinderung von Betriebsratswahlen.
Ein klarer, gesetzlicher Mindestlohn für alle und eine automatische, jährliche Inflationsabgeltung – wie in anderen Ländern der EU als unterste Absicherung durchaus üblich – können den Gewerkschaften personelle Ressourcen für zusätzliche Kämpfe geben. Beispiele dafür sind ein stärkeres Engagement beim Kampf um einen Anteil am Produktivitätsgewinn oder für die Humanisierung der Arbeitswelt in allen Bereichen. Wenn betrieblich selbst die besten Akteur:innen im Endergebnis scheitern, braucht es einen Systemwechsel. Es geht darum, unsere Arbeitsbeziehungen besser und demokratischer zu organisieren und systemisch jene bestmöglich zu unterstützen, die sich bereits heute täglich darum bemühen. Der Kampf gilt den Gesetzlosen.
Ewald Magnes ist Angestellter bei UniCredit Services und GLB-Kandidat bei der Arbeiterkammerwahl in Wien
Quelle: Volksstimme 12/2023