Plädoyer für Gerechtigkeit
Georg Erkinger sprach mit Hannah Wahl über Radikale Inklusion
Hannah Wahl studierte Geschichte an der Universität Salzburg und arbeitet als freie Journalistin und Redakteurin im Filmbereich. Jetzt erscheint ihr Buch „Radikale Inklusion. Ein Plädoyer für Gerechtigkeit“.
Wie kam es zu der Idee für das Buch?
Inklusion ist ein Modewort. Dieses Schlagwort vermittelt uns: Wir sind inklusiv, fortschrittlich und leben Gleichberechtigung. Viel zu oft wurden integrative Maßnahmen einfach umbenannt, die Inhalte sind aber überhaupt nicht inklusiv.
Es gibt noch so viel zu tun, bevor wir wirklich von inklusiven Maßnahmen und gar einer inklusiven Gesellschaft sprechen können. Menschen mit Behinderungen treffen in allen Lebensbereichen auf Barrieren und erhalten nicht die Unterstützung, um selbstbestimmt leben zu können.
Wir kommen aber nicht weiter, wenn wir den Ist-Zustand inklusiv nennen, sondern nur wenn wir erkennen, wo überall noch etwas zu tun ist: Inklusive Bildung, Barrierefreiheit, Kampf gegen Vorurteile und Stereotype, Schaffung von Rechtsansprüchen, Abbau von Heimen und so weiter.
Inklusion darf nicht zu einer leeren Worthülse werden. Wir brauchen ein radikales Verständnis von Inklusion als Veränderungsprozess mit revolutionärem Potenzial.
„Rasch, persönlich und unbürokratisch: Nach diesem Motto will ich Politik betreiben und nach diesem Motto konnten wir auch auf einen Bericht der Kronen Zeitung reagieren, wonach Förderungen für wichtige Computer-Kurse sehbehin- derter Kinder reduziert werden, was den Fortbestand dieser Kurse gefährdet hätte“. Dieses Zitat entstammt der Facebook-Seite eines ÖVP-Politikers der Spenden gesammelt und damit an die Öffentlichkeit getreten ist. Charity statt Rechtsanspruch – was sind deine Gedanken dazu?
Wir brauchen keine Politiker*innen die Spenden sammeln, sondern solche, denen bewusst ist, dass Menschen mit Behinderungen Rechtsansprüche brauchen und ein Recht auf Selbstbestimmung haben, und die etwas dafür tun. Politiker*innen, die sich mit der Lebensrealität von Menschen mit Behinderungen beschäftigten, ihnen zuhören und sie nicht bevormunden.
Viele Menschen mit Behinderungen kritisieren zurecht Charity-Aktionen. Hinter ihnen steckt ein veraltetes Bild von Menschen mit Behinderungen, denen durch Mildtätigkeit geholfen werden muss. Dieses Bild verhindert auch, dass Menschen mit Behinderungen ein Recht auf Gleichberechtigung und Selbstbestimmung haben.
Unser Verständnis von Gerechtigkeit sollte sein, dass jede*r bekommt, was er*sie für ein gutes und unabhängiges Leben benötigt. Das sicherzustellen ist die Aufgabe eines sozialen Staates. Spenden sammeln und damit die eigene Barmherzigkeit zu inszenieren – das ist in erster Linie eine PR-Maßnahme.
Wo liegen die Grenzen, die der Kapitalismus neoliberaler Prägung den Bemühungen um Inklusion setzt?
Es gibt Veränderungen, die sind im Kapitalismus denkbar. Es gibt aber eben auch eindeutig Grenzen, die durch das Wesen des Kapitalismus zwangsläufig bestehen: Menschen, die etwas im kapitalistischen Sinne leisten, haben einen „Wert“, da sie ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen. Menschen, die ökonomisch nicht als „verwertbar“ gelten, werden in Parallelwelten und ihre Einrichtungen gedrängt.
Radikale Inklusion und Kapitalismus gehen daher nicht zusammen: Radikale Inklusion erfordert sicherzustellen, dass alle Menschen selbstbestimmt und gut leben können. Unabhängig von ihrer (Klassen-)Herkunft, ihren Fähigkeiten oder davon, ob sie arbeiten oder nicht. Teilhabe im Kapitalismus ist nie mehr als die Teilhabe am Kapitalismus.
- Hannah Wahl, Radikale Inklusion – Ein Plädoyer für Gerechtigkeit, Leykam Verlag, 14,50 Euro