Pinke Welle der Hoffnung
Max Zirngast über den Protest der Essenszusteller in der Türkei
Die Türkei befindet sich in einer multiplen, vor allem auch tiefen ökonomischen Krise. Der Wert der Lira (TL) im Vergleich zu Dollar und Euro ist de facto eingebrochen, die Inflation schießt selbst gemäß der offiziell-staatlichen Angaben in luftige Höhen.
Staat und Kapital versuchen diese Krise auf den Rücken der Arbeiter*innen abzuwälzen. So stieg der Bruttodurchschnittslohn von 2016 bis 2020 um 30,4 Prozent, die offizielle Inflation im selben Zeitraum betrug aber 72,6 Prozent, die Inflation bei Grundnahrungsmitteln 90,4 Prozent. Der Mindestlohn wurde unlängst von 2.825 TL auf 4.250 TL angehoben – eben auch eine Erhöhung unterhalb der offiziellen Inflationsrate.
Deswegen verwundert es kaum, dass in den letzten Monaten, ganz intensiv auch in den letzten Wochen reihenweise Arbeitskämpfe in unterschiedlichen Sektoren und unterschiedlichen Städten im ganzen Land ausgebrochen sind. Ein Sektor, der in der Pandemie an Bedeutung massiv zugenommen hat und dessen Beschäftigtenzahl sich vervielfacht hat sind die Zustelldienste. In der Türkei arbeiten Kurier*innen meist per Motorrad.
Die Arbeitsbedingungen sind miserabel und das liegt nicht nur an den niedrigen Löhnen. Von Beginn der Pandemie bis April 2021 starben mindestens 203 Kurier*innen im Dienst, meist aufgrund des großen Zeitdrucks. Bei Essenszustelldiensten wie Yemeksepeti gibt es eine Schnellzustellung innerhalb von 25 Minuten. In Großstädten wie Istanbul kann man sich denken, was das für die Arbeiter*innen bedeutet.
Die pinke Welle
Miserable Arbeitsbedingungen und schlechte Entlohnung führten in den letzten Wochen auch zu massivem Widerstand. Es war eine richtige Welle: Zuerst waren es die Arbeiter*innen des Online-Händlers Trendyol die protestierten, weil ihnen eine elf Prozent Lohnerhöhung zu niedrig war. Der Konzern gab recht schnell klein bei und garantierte eine 39 Prozent Lohnerhöhung. Doch auch im Metallsektor, wie beim Autoteilhersteller Farplas kam es zu Streiks.
Und dann rollte Anfang Februar plötzlich eine pinke Welle los, vor allem in Istanbul. Viele Essenskurier*innen von Yemeksepeti begannen einen Streik. Konkret heißt das, dass sie sich in den Lagern der Firma sammelten mit Firmenmotorrad und Uniform (ganz in pink), danach ihre Apps ausschalteten und gemeinsam in Richtung Hauptquartier der Firma fuhren und dort protestierten. Damit entfachten sie in der ganzen Türkei eine Welle der Solidarität, die Proteste weiteten sich auf andere Städte aus, Arbeiter*innen in anderen Betrieben gewannen Mut und begannen teils ebenfalls zu streiken.
Die Firma Yemeksepeti, genauso wie ihre Subfirmen wie der Online-Markt Banabi, wurde 2001 gegründet und ist seit 2015 im Besitz des DAX-Konzerns Delivery Hero mit Sitz in Berlin. Rund 590 Mio. Dollar kostete die Übernahme, Delivery Hero besitzt unzählige Zustelldienste in der ganzen Welt – in Österreich den Lieferservice Mjam.
Forderungen der Arbeiter*innen
Die Hauptforderung der Yemeksepeti-Kurier*innen ist, dass ihr Lohn auf 5.500 TL erhöht wird, statt des Mindestlohns von 4.250 TL (360 statt 274 Euro bei momentanem Wechselkurs). Es geht aber um mehr: Arbeitssicherheit und das Recht auf gewerkschaftliche Organisation. Das türkische Arbeitsrecht sieht vor, dass eine bestimmte Anzahl von Arbeiter*innen in einem Sektor in einer Gewerkschaft organisiert sein müssen, damit diese dann Vertretungsanspruch bekommt.
Das türkische Kapital ist findig dabei bestimmte Berufe verschiedenen Sektoren zuzuordnen, um einen solchen Vertretungsanspruch zu verhindern. Kubilay Çelik, Ko-Sprecher der Gewerkschaft TEHIS, sieht die zwei großen Hürden gewerkschaftlicher Organisierung einerseits in dieser veränderten Zuordnung der Kurier*innen zum Sektor der Handels- und Büroangestellten und andererseits im Modell der Unternehmens-Zusteller*innen, bei dem die Kurier*innen eben nicht angestellt sind, sondern EPUs. Auch dieses Modell ist in der Türkei verbreitet, wenngleich es für die Arbeiter*innen bei Yemeksepeti noch nicht gilt.
Und jetzt?
Streiks und Proteste dauern an, auch wenn die Firma versucht sie auszusitzen und auf staatliche Hilfe setzt, um die Streikwelle zu brechen. Noch gab es zwar keine direkten Angriffe der Polizei – wie bei den streikenden Migros-Lagerarbeiter*innen oder bei Farplas – aber die Polizei versuchte mit Drohungen und unterschiedlicher Behandlung Zwietracht unter den Streikenden zu sähen.
Die Gefahr – aus Sicht des Kapitals – eines Erfolges wäre, dass andere Beschäftigte in einem großen und stetig wachsenden Sektor ebenfalls für ihre Rechte eintreten würden. Gleichzeitig haben sich die Lebensbedingungen einer großen Mehrheit in der Türkei so verschlechtert, dass zukünftige Proteste und Streiks in vielen Sektoren kaum zu verhindern sein werden.
Max Zirngast ist Journalist und KPÖ-Gemeinderat in Graz