Opfern Gehör schenken
Birgit Hohlbrugger über Gewalt an Frauen
31 Frauen wurden 2021 in Österreich ermordet. Die Täter waren fast immer Männer aus dem familiären Umfeld. Gerne als „traurige Einzelfälle“ abgetan finden diese Morde nicht in einem Vakuum statt. Vielmehr sind es erschreckende Höhepunkte einer tiefer liegenden, unsichtbar in unsere Gesellschaft eingebetteten Dynamik.
Frauenmorde sind die Spitzen der Eisberge aus struktureller, physischer und sexualisierter Gewalt, die aus einem für Frauen und ihre Anliegen eiskalten gesellschaftlichen Klima herausragen. Ein Eismeer, in dem Gewalterfahrungen von Frauen mit einer starrgefrorenen Gleichgültigkeit begegnet wird.
Wie groß das hier verborgene Problem tatsächlich ist, lässt sich dabei an einer Hand abzählen: Jede fünfte Frau in Österreich wird im Laufe ihres Lebens Opfer von physischer und/oder sexualisierter Gewalt. Es ist darüber hinaus von einer hohen Dunkelziffer auszugehen.
Grenzenlose Grenzüberschreitungen
Natürlich ist Gewalt an Frauen kein österreichspezifisches Phänomen. Vor einigen Jahren sorgte die #metoo-Kampagne, ausgehend von Missbrauchsvorwürfen in Hollywood, weltweit für Aufsehen. Bis dahin hatte der Hashtag aber bereits einen langen Weg hinter sich, denn bereits über zehn Jahre zuvor war die Phrase „me too“ Gegenstand einer Kampagne über afroamerikanische Frauen, die Opfer von sexuellem Missbrauch geworden waren.
In Lateinamerika entwickelte sich die Phrase „ni una menos“ (dt.: nicht eine weniger) zum kollektiven Aufschrei gegen Männergewalt und Femizide. Nach den Missbrauchsvorwürfen einer serbischen Schauspielerin teilten tausende Frauen in Serbien, Bosnien-Herzegowina und Kroatien unter dem Hashtag #nisamtrazila (dt. etwa: Ich habe nicht danach verlangt) ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt.
Solche Kampagnen machen nicht nur auf Gewalt gegen Frauen öffentlich aufmerksam, sondern sie geben den Opfern eine Stimme und ein Gesicht und bringen eine Tatsache schonungslos ans Licht: Die Überschreitung von Grenzen gegenüber Frauen kennt keine Grenzen, weder in nationaler oder kultureller Hinsicht, noch bezogen auf gesellschaftliche Schichten. Wie eine nicht enden wollende Blutspur zieht sich Gewalt gegen Frauen durch alle Generationen, alle Schichten – kurzum durch die Gesellschaft im Gesamten – und hat sich in die Lebensrealität von Frauen weltweit eingeschweißt.
Es beginnt im öffentlichen Diskurs
Blicken wir mit dieser Kenntnis zurück auf Österreich, müssen wir uns unangenehmen Fragen stellen. Wir sind erschüttert von der Gewalt gegen Frauen überall dort, wo sie sichtbar wird, aber anstatt anzuerkennen, dass diese Form der Gewalt in unserem Gesellschaftssystem wurzelt und dann entsprechende Maßnahmen dagegen zu treffen, ist die Gesellschaft nur allzu schnell gewillt, hier Ausflüchte zu suchen. War es am Ende nicht doch auch ein bisschen die Schuld der Frau? Hätte sie sich nicht von ihrem Peiniger trennen sollen? Hätte sie nicht so aufreizend angezogen sein sollen? Hätte sie nicht flirten sollen mit ihrem späteren Vergewaltiger? Wollte sie es nicht auch, nur um ein bisschen Karriere zu machen? Möchte sie vielleicht nur Aufmerksamkeit erregen?
Mit all diesen Fragen schiebt die Gesellschaft den Opfern die Schuld in die Schuhe und distanziert sich gleichermaßen von ihnen und ihren Geschichten. Anstatt weiblichen Gewaltopfern Gehör zu schenken, werden sie im öffentlichen Diskurs zu Mitverantwortlichen geframt.
Aber genau hier, in der öffentlichen Wahrnehmung, in der Berichterstattung und im Diskurs beginnt, was für viele Frauen in einer entsetzlichen Gewaltspirale endet. Es beginnt dort, wo weibliche Erfahrungen kleingeredet und nicht ernst genommen werden, es beginnt, wo Frauen, die sich öffentlich äußern, mundtot gemacht werden, es beginnt, wo die Hilfeschreie von Frauen nicht wahrgenommen werden.
Und wir wissen sehr genau, was es bräuchte, um die Spirale der Gewalt an Frauen zu durchbrechen. Vom Ausbau der Gewaltschutzzentren und niederschwelliger Hilfsangebote für Opfer über Männerberatung bis hin zu Präventionsarbeit bei Kindern. Doch sämtliche Maßnahmen bleiben nur eine Symptombekämpfung, nur schnelle Antworten auf viel komplexere Probleme, solange wir den Opfern der Gewalt nicht auch Gehör schenken, die richtigen Fragen stellen und von dort an Lösungsansätze entwickeln.
Welche Wege sind die Opfer gegangen? Welche Wege sind sie nicht gegangen und warum? Warum haben Frauen in unserer Gesellschaft Angst, sich an die Polizei zu wenden? Welche strukturellen Abhängigkeiten haben Frauen in diese Gewaltspirale getrieben? Warum haben Frauen Vorbehalte, um Hilfe zu bitten? Wie oft haben sie um Hilfe gebeten und wurden einfach nicht gehört?
Birgit Hohlbrugger ist Integrationsexpertin, Autorin und Aktivistin der Gewerkschaftlichen Linken in Tirol