Mit kühlem Kopf in einen heißen Herbst
Die multiple Krise – Corona, Klima, Globalisierung, Lieferketten, Finanzmärkte, Krieg usw. – lenkt mit ihren Auswirkungen den Blick unweigerlich auf die Verteilungsfrage. Denn während die regierenden Eliten von den Subalternen Opfer im Interesse der Allgemeinheit verlangen bleiben sie selbst weitgehend unbehelligt. Der Profit gilt als geheiligt und darf nach neoliberal-kapitalistischer Logik nicht angetastet werden. Denn angeblich regelt ja der Markt alles zum Besten – in der Realität allerdings nur im Sinne der „oberen zehntausend“.
Unter der Teuerung leiden die vier Millionen Lohnabhängigen und die 1,75 Millionen Pensionist*innen in unterschiedlicher Weise. Am meisten vor allem jene mit einem geringen Einkommen, das oft unter oder knapp über der Armutsgrenze, die 2022 offiziell bei 1.371 Euro im Monat liegt. Für diese Gruppe der Bevölkerung wirkt sich mit Stand vom Juli 2022 der Verbraucherpreisindex (VPI) mit 9,3 Prozent und beim täglichen Einkauf (Mikrowarenkorb) von 10,4 Prozent und beim wöchentlichen Einkauf (Miniwarenkorb) von sogar 19,1 Prozent dramatisch aus.
Laut den Prognosen der Wirtschaftsforscher wird die Inflation 2022 im Jahresdurchschnitt 7,8 Prozent erreichen. Nach geltender Lesart wird für die Kollektivvertragsverhandlungen der Verbraucherpreisindex der jeweils letzten zwölf Monate zugrunde gelegt. Für die im September beginnenden Metall-KV-Runde bedeutet das zwischen sechs und sieben Prozent.
Für die Pensionserhöhung gilt als Grundlage der Zeitraum zwischen August des Vorjahres bis Juli des laufenden Jahres, was für heuer 5,8 Prozent ergibt. Übrigens waren in früheren Jahrzehnten auch die Pensionen an die KV-Abschlüsse – und damit einen Produktivitätszuwachs – orientiert, was schon unter rot-schwarzen Regierungen zur „Kostendämpfung“ abgeschafft wurde.
Von der Kapitalseite und ihren „Wirtschaftsweisen“ wird seit Monaten das Gespenst einer Lohn-Preis-Spirale zur ultimativen Bedrohung aufgeblasen. Doch ein Rückblick auf 1975 – als zuletzt die Teuerung ähnlich hoch war wie 2022 – zeigt wie falsch dieses Argument ist. Damals wurden die Löhne um 13 Prozent und die Pensionen um zehn Prozent erhöht. Die prophezeite Pleitewelle blieb trotzdem aus, wie Jakob Sturn vom Momentum-Institut klarstellt (Standard, 25.8.2022).
Bewusst unterschlagen wird bei dieser Debatte nämlich der Produktivitätszuwachs der Wirtschaft. Auch bei den Lohnerhöhungen der letzten Jahre blieb dieser meist ganz oder teilweise unberücksichtigt. Meist gab sich sogar der ÖGB schon höchst erfolgreich, wenn der VPI abgedeckt wurde, von dem für kleinere Einkommen maßgeblicheren und deutlich höheren Miniwarenkorb für den täglichen Einkauf wurde erst gar nicht mehr gesprochen. Aktuell kostet dem ärmsten Zehntel der Haushalte die Teuerung mehr als ein Monatseinkommen, dem reichsten Zehntel hingegen nur ein halbes Monatseinkommen.
Dabei sind es die Lohnabhängigen, die mit ihrer Arbeit jene Werte schaffen, die sich die Kapitaleigentümer zu einem Großteil als Mehrwert, sprich Profit unter den Nagel reißen. Seit 1975 hat sich die Produktivität der Wirtschaft in Österreich vervierfacht. Wenn also über Verteilung debattiert wird, stellt sich unweigerlich neben dem Lohn auch die Frage der Arbeitszeit.
Die Arbeitszeit für ein normales Vollzeitarbeitsverhältnis ist seit 1975 unverändert bei 40 Stunden, nur in einigen Branchen gibt es die 38-Stundenwoche. Anerkannte Expert*innen meinen hingegen schon seit Jahren, dass angesichts der enormen Produktivität – und damit verbunden auch der Arbeitsverdichtung – die 30-Stundenwoche zum neuen Arbeitszeitstandard werden muss. Wirklich wirksam aber nur mit vollen Lohn- und Personalausgleich. Sonst bedeutet das nur eine weitere Arbeitsintensität ähnlich wie die von SPÖ und auch vom ÖGB propagierten Modelle einer 4-Tagewoche bei gleichbleibender Arbeitszeit oder Personalstand.
Die Forderungen nach kräftigen Lohnerhöhungen sind zwangsläufig der Kapitalseite ein Dorn im Auge. Sie setzt vielmehr darauf mit Zuckerln in Form von Einmalzahlungen als Teuerungsausgleich etc. bei den anstehenden KV-Verhandlungen – ebenso wie bei den Pensionen – die Anhebung möglichst niedrig, am besten deutlich unter der Inflationsrate zu halten oder nur für „Mindest-KVs“.
Der Wiener Industriellenchef Christian Pochtler fordert dabei sogar „keine Verhandlungen mit Pensionistenverbänden“ und wertet die KV-Verhandlungen als „Ritual“ ab. Scheinheilig erklärt Pochtler „Die Menschen brauchen mehr Geld in der Tasche!“, meint die Unternehmer würden „gerne gute Löhne und Gehälter zahlen“ – und beklagt in einem Atemzug, dass davon zu viel „in die Staatskasse wandert“.
Dabei haben die Unternehmen – wie die brisante COFAG-Bilanz anschaulich beweist – keinerlei Skrupel sich mit Millionen aus der so verächtlich gemachten „Staatskasse“ zu bedienen. Also aus Steuergeld, das von ihren Beschäftigten in Form von Lohnsteuer und Mehrwertsteuer – den beiden umfangreichsten, vor allem von den Lohnabhängigen geleisteten Steuern – aufgebracht wird.
Die Maßnahmen der schwarz-grünen Regierung zielen auf maximale Schonung des Kapitals, wenn es darum geht, den Lohnabhängigen ihnen zustehende Einkommen zu sichern: Abschaffung der „kalten Progression“, Valorisierung der Sozialleistungen, Senkung von Lohnnebenkosten, Sonderzahlungen, Klima- und Teuerungsbonus werden letztlich aus Steuergeldern finanziert – und gleichzeitig als Argument verwendet, um nachhaltige Lohn- und Pensionserhöhungen zu unterlaufen. Denn alle derartigen Einmalzahlungen schmälern die Basis für künftige Lohn- und Pensionserhöhungen. Pochtler bringt die Geisteswelt des Kapitals mit dem Sager „Eine Zweiteilung zwischen Lohnerhöhungen und Einmalzahlungen wäre sinnvoll“ sehr treffend auf den Punkt.
Im Gegensatz zu Pochtler sieht WKO-Boss Harald Mahrer der Lohnrunde gelassen entgegen, meint sogar „Die Forderung der Gewerkschaft ist legitim“ und verbittet sich Einmischungen in die „sicher intensiven“ KV-Verhandlungen (Presse, 26.8.2022). Wohin die Reise aus Sicht der Wirtschaftskammer gehen soll, macht er freilich mit dem Sager „Wir sind dankbar, dass uns die Regierung das Instrument der steuerfreien Prämien zur Verfügung gestellt hat, und ich hoffe, dass es verwendet wird“.
Im Klartext setzt Mahrer also ebenfalls auf möglichst niedrige Lohnabschlüsse mit dem Argument, dass durch diverse Einmalzahlungen ohnehin schon eine wesentliche Vorleistung erbracht wurde. Und im langjährigen Vertrauen darauf, dass die Gewerkschaften als „Sozialpartner“ bei den Verhandlungen von Industriellenpräsident Knill (als Chefverhandler der Metallindustrie) und Konsorten wieder einmal über den Tisch gezogen werden.
Der Aufforderung des Wiener Industriepräsidenten Pochtler „in diesem Herbst mit kühlen Kopf“ zu agieren, sollten daher die Lohnabhängigen und Pensionist*innen – vor allem aber ihre Interessensvertretungen wie Gewerkschaften und Seniorenverbände – nur in der Hinsicht folgen, dass sie entschieden gegen das Abspeisen mit Einmalzahlungen aller Art und für kräftige Erhöhungen von Löhnen, Gehältern und Pensionen und damit einer nachhaltigen Wirkung eintreten und dafür auch Flagge mit Kampfaktionen in Betrieben und auf der Straße zeigen.