Massenstreiks gegen Massenarmut
Christian Bunke über Protestbewegungen in Großbritannien
In Österreich blieb der ob dramatischer Preissteigerungen vielfach beschworene gewerkschaftliche „heiße Herbst“ weitgehend aus. In Großbritannien ist er längst in einen „heißen Winter“ übergegangen, dem ein ebenso „heißer Frühling“ folgen könnte.
Seit Monaten erreichen uns von der Insel Bilder von Massenstreiks, Großkundgebungen und mitreißenden Reden von Gewerkschaftsführer*innen wie Mick Lynch, dem Vorsitzenden der Transport-Arbeiter*innengewerkschaft RMT: „Die Arbeiter*innenklasse ist zurück“ sagte er am 1. Februar selbstbewusst vor 40.000 Streikenden in London, um Zusammenhalt zu beschwören: „Es wird eine lange Auseinandersetzung werden“.
Was aber bringt Krankenschwestern, Feuerwehrleute, Lehrer*innen, Eisenbahner*innen, Gemeindebedienstete und andere Lohnabhängige dazu, seit dem Sommer 2022 in stetig anwachsenden Streikwellen die Arbeit niederzulegen? Die Antwort ist vielschichtig.
Ein Hauptgrund liegt in der sich seit dem Finanzcrash von 2008 zuspitzenden Lebenshaltungskrise. Großbritannien ist seit Jahrzehnten ein Niedriglohnland. Weil es der konservativen Premierministerin Margaret Thatcher in den 1980er Jahren gelang, der britischen Gewerkschaftsbewegung empfindliche Schläge zu versetzen, die deren Durchsetzungsfähigkeit auf betrieblicher Ebene massiv beeinträchtigt haben.
Insbesondere im privaten Sektor ist eine gewerkschaftliche Präsenz vielerorts kaum vorhanden. Einen viel stärkeren Organisationsgrad gibt es allerdings in Teilbereichen des öffentlichen Dienstes, dem Gesundheitswesen, sowie ehemals verstaatlichter aber inzwischen privatisierter Infrastrukturen wie Eisenbahnen oder Post.
Auch unter sozialdemokratischen Regierungen von Premierminister Tony Blair in den späten 1990er und den 2000er Jahre blieb die Niedriglohnpolitik erhalten. Es kam zu dieser Zeit bereits zu ernsten Verstimmungen zwischen Gewerkschaften und Labour-Partei. 2003 streikten Feuerwehrleute gegen die Regierung für höhere Löhne und wurden dafür, ganz im Zeichen des damals unter britischer Beteiligung tobenden Irakkrieges, als „Agenten Saddam Husseins“ verteufelt.
Aus Protest entzog die Feuerwehrgewerkschaft FBU der Labour-Partei damals die finanzielle Unterstützung. Doch trotz allen Unmutes konnte Labour den ganz großen Knall verhindern. Verschiedene Transferleistungen und steuerliche Entlastungen für Lohnabhängige hielten das Überlebensniveau für viele Menschen auf einem gerade noch tolerablen Niveau.
Mit dem Finanzcrash änderte sich das grundlegend. 2010 kam eine konservativ geführte Regierung an die Macht, die zum Mittel der Sparpolitik zur Krisenbewältigung griff. Seitdem wird der öffentliche Dienst systematisch kahlgeschoren. Löhne wurden gekürzt, beziehungsweise nicht erhöht. Laut Angaben des britischen Gewerkschaftsbundes TUC haben Pflegekräfte im staatlichen Gesundheitswesen NHS seit 2008 Reallohnverluste in Höhe von 42.000 Pfund hinnehmen müssen. Bei Notärzt*innen sind es 56.000 Pfund.
Es ist somit kein Wunder, dass Millionen Lohnabhängige zunehmend auf Tafeln angewiesen sind, um sich und ihre Familien mit Essen zu versorgen. Kinder gehen hungrig zur Schule, Arbeiter*innen können ihre Wohnungen nicht beheizen.
Mit den kurz aufeinander folgenden Dreifachschlägen aus Brexit, Covid und der im Zuge des Ukrainekrieges entstandenen Energiekrise wurde endgültig die Zündschnur für die derzeitige Eskalation an Arbeitskämpfen gelegt. Auch wachsende Teile der Mittelschichten können sich plötzlich das Heizen oder das Bedienen von Hypotheken auf ihre Familienhäuser nicht mehr leisten. Gleichzeitig blieben mit dem Vollzug des Brexit plötzlich hunderttausende osteuropäische Arbeitskräfte der Insel fern. Massenverarmung, Niedriglöhne und ein Mangel an Arbeitskräften sind eine explosive Mischung.
Im Sommer 2021 gab es die ersten Streiks, vor allem in der Logistikbranche. Hier hatte es teilweise seit Jahrzehnten keine Arbeitskämpfe mehr gegeben. Nun sahen Arbeiter*innen ihre Chance gekommen, sich ihren gerechten Anteil von den Bossen zurückzuholen. Mit Erfolg: Teilweise konnten Lohnerhöhungen im deutlichen zweistelligen Bereich erstreikt werden. Das gab anderen Branchen Mut, der Grundstein für die jetzige Streikwelle war gelegt.
Die britische Regierung versucht dem nun mit Verschärfungen des Streikrechts zu begegnen. So sollen Unternehmen das Recht bekommen, ihre Beschäftigten im Streikfall zu einem Mindestbetrieb zwangszuverpflichten. Dagegen gingen am 1. Februar landesweit hunderttausende auf die Straße. Wenn mit den Gesetzesverschärfungen eine Entmutigung der britischen Lohnabhängigen bezweckt wurde, scheint dieser Versuch gründlich nach hinten losgegangen zu sein.
Christian Bunke ist Autor und Journalist und schreibt für verschiedene Publikationen