Kürzer arbeiten, sicherer leben!
Memorandum an den ÖGB
Ein Großteil „unserer Zeit“ ist von Erwerbsarbeit bestimmt und wird immer belastender wahrgenommen. Der gestiegene Arbeitsdruck ist hervorgerufen durch die enorm gestiegene – und für uns nicht ausgeglichene – Produktivität, die Deregulierung starrer Arbeitszeiten und der smarten „Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit“ und der damit verbundenen Entgrenzung von Arbeits- und Freizeit. Alles im allem führt dies zu immer leistungsintensiveren Arbeitszeitregelungen, die Freizeit und Familienleben zunehmend unplanbar machen.
Die Folgen der sich negativ entwickelnden „Work-Life-Balance“ sind krankmachende, aber auch soziale und gesellschaftspolitische Auswirkungen. Mit den neuen „flexiblen“ Arbeitszeiten gestalten sich gemeinsame Familienzeit und Teilhabe am kulturellen, sportlichen und freizeitmäßigen Vereinsleben immer schwieriger. Ebenso ehrenamtliches Engagement bei Rettung, Feuerwehr usw.
Seit der Einführung der 40-Stunden-Woche im Jahre 1975 liegt die Umsetzung einer weiteren Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit – bis auf wenige Branchenausnahmen – brach. Erst der gegenteilige Weg der schwarzblauen Regierung unter Kurz und Strache mit 12-Stundentag und 60-Stundenwoche und vor allem die Kollektivvertragsverhandlungen für die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich in der Sozialwirtschaft Österreichs ließen das Thema Arbeitszeitverkürzung wieder vermehrt öffentlich hervorheben.
Jetzt liegt es am ÖGB und den Gewerkschaften, diesen „Aufwind“ für die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich auch weiter zu nutzen und branchenübergreifend dafür zu mobilisieren.
Wir Linksgewerkschafter*innen verlangen zehn Punkte:
1 An einer dauerhaften und deutlich spürbaren Verringerung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 30 Wochenstunden bei vollem Lohn- und Personalausgleich darf kein Weg vorbeiführen. Nur mit einer generellen radikalen Arbeitszeitverkürzung kann eine gesamtgesellschaftliche, sowohl quantitativ als auch qualitativ solidarische neue Verteilung von Arbeit bei steigender Produktivität auf alle Erwerbstätigen verwirklicht werden.
2 Mit einer solchen Arbeitszeitverkürzung muss gleichzeitig auch ein durch Gewerkschaften und Arbeiterkammer nachprüfbarer und einklagbarer voller Lohn- und Personalausgleich eingefordert und erreicht werden, damit es zu keinem Unterlaufen des Personalausgleichs sowie des „Freizeit- und Erholungseffekts“ aufgrund von kontinuierlicher Produktivitätssteigerung und ausgeklügelten Mehrarbeitsregelungen kommt.
3 Auf Grundlage eines solchen Rechtsanspruchs ergeben sich größere Chancen für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dadurch kann eine bewusst geschaffene Zeit für gewerkschaftliches und politisches Engagement sowie ehrenamtliche Tätigkeit in Sport- und Kulturvereinen geschaffen werden. Weiters ausreichende Gelegenheiten zum Genießen von kommerzfreier bzw. von Freizeit ohne Konsumzwang, durch körperliche und psychische Entspannung und eine „Belebung“ durch sinngebendes Nichtstun.
4 Die Auseinandersetzung um die Verkürzung der Wochenarbeitszeit kann nur erfolgreich geführt werden, wenn sie von ÖGB und Gewerkschaften nicht bloß von Branche zu Branche „nacheinander“ thematisiert und gefordert wird. Sie muss für die Interessen aller Organisierten (und letztlich aller Beschäftigten) zu einem Ziel für „Alle“ erhoben werden.
5 Eine entsprechende Kampagne muss gesellschaftlich angelegt sein. Damit ist eine Debatte über die sozial- wie einkommenspolitisch sich katastrophal auswirkenden prekären Beschäftigungsverhältnisse wie die ausufernde Teilzeit, Leiharbeit, Arbeit auf Abruf, unter der Geringfügigkeit usw. leicht zu verknüpfen und kann eine Perspektive zur Rückkehr zu einem Vollzeit-“Normalarbeitsverhältnis“ aufzeigen.
6 Ein mit einer empfindlichen Verkürzung der Wochenarbeitszeit unvermeidlich verbundener Personalausgleich wird sich auf die Berufsperspektive von Beschäftigten in Erwerbslosigkeit und Zwangsteilzeit, aber ebenso für junge Leute ohne bisherigen Rechtsanspruch zur Übernahme nach der Ausbildung positiv auswirken.
7 Die Forderungen nach „Zwischenlösungen“ für eine nachhaltige und spürbare Verkürzung der Wochenarbeitszeit, eines Ausbaus des Urlaubsanspruchs, zusätzlicher freier Tage oder Sabbaticals als kollektivvertragliche Ziele können die Debatte um eine generelle Arbeitszeitverkürzung positiv unterstützen (siehe SWÖ-KV-Verhandlung). So genannte „Optionsmodelle“ sind allerdings darauf zu prüfen, ob und wem sie tatsächlich eine reale Möglichkeit der Gestaltung und Entlastung bieten. Wenn unsere Kolleg*innen aus finanziellen Gründen nicht in der Lage sind, diese „Scheinarbeitszeitverkürzung“ anzunehmen, dann fehlt dabei die „soziale Komponente“.
8 Bei den bisher üblichen kollektivvertraglichen „Wahlmöglichkeiten“ Geld oder Freizeit ist zu problematisieren, ob nicht „Scheinlösungen“ favorisiert wurden, welche sich die Beschäftigten durch Verzicht auf höhere Einkommen selbst finanzieren (müssen). Ebenso ob nicht die spürbare Teilhabe am Produktivitätsfortschritt, der fehlende „Zinseszins“ aus den in folgenden Jahren stattfindenden Lohnerhöhungen fehlt und der Pensionsanspruch verringert wird.
9 Die Forderung der Verkürzung der Wochenarbeitszeit verlangt auch die Notwendigkeit des Überdenkens der jahrzehntelangen bedingungslosen Sozialpartnerschaftspolitik. Wurden frühere generelle Arbeitszeitverkürzungen von den Sozialpartner*innen vereinbart und von der Regierung nachvollzogen ist das inzwischen selbst ansatzweise undenkbar.
10 Es lohnt sich, die strategisch wichtige Frage einer deutlich spürbaren und allgemeinen Verkürzung der Wochenarbeitszeit sofort zu verlangen. Denn was schon bei der Gründung von Gewerkschaften, aber heute noch so aktuell und wichtig ist: Kürzer arbeiten heißt besser leben!
Beschlossen von der GLB-Bundeskonferenz am 17. Oktober 2020