Kürzer arbeiten, mehr Zeit fürs Leben

Arbeitszeitverkürzung und “Halbe-Halbe” sind wichtig. Denn Zeit ist eine wichtige Ressource, die uns Menschen zur Verfügung steht. Neben der Bezahlung der Erwerbsarbeit müssen sich daher Arbeitszeitgestaltung, aber auch eine Neubewertung und Neuverteilung der Arbeitszeit den gewerkschaftlichen Alltag beinhalten – sowohl bei der bezahlten Erwerbsarbeit als auch beider unbezahlten Care-Arbeit. 

von Josef Stingl

Die Zeit nach der Arbeit reicht nicht mehr, um sich zu erholen und auch noch Kraft für soziales und gesellschaftliches Engagement zu haben. Und es gibt viele Dinge, die nach unserer individuellen und gesellschaftlichen Regeneration verlangen: mehr Selbstfürsorge, Reparaturen, Pflege von Beziehungen oder politisches Engagement. 

Mehr als die Hälfte der Vollzeitbeschäftigten würde ihre Arbeitszeit gern reduzieren. Der Wunsch nach weniger wöchentlichen Arbeitsstunden ist hoch, 21,3 % aller Vollzeiterwerbstätigen würden sie gerne reduziert sehen. Jeder achte Mann und jede zweite erwerbstätige Frau tun dies bereits: Auf Teilzeitbasis mit Teilzeiteinkommen, begründet meist mit Betreuungsaufgaben, aber auch mit Arbeitsüberforderungen. 

Manche machen es freiwillig, aber bei weitem nicht alle 1,4 Millionen Teilzeitbeschäftigten arbeiten nicht auf eigenen Wunsch mit vermindertem Lohn und Arbeitszeit.  Arbeitsmarkt und Kinderbetreuungseinrichtungen lassen nichts anderes zu und jede:r siebente Teilzeiterwerbstätige (14,8 %) würde gerne mehr arbeiten. 

Mehr Zeit für Gesellschaft

Mehr Zeit neben der Arbeit bedeutet neben gesteigerter Regeneration auch mehr Zeit für soziales Engagement. Drei Viertel aller, die sich noch nie ehrenamtlich engagiert haben, machen Zeitmangel dafür verantwortlich. Zeitkonflikte gibt es aber auch in Familien: Eine 40-Stunden-Woche lässt sich nicht damit vereinbaren, Kinder zu betreuen und einen Haushalt zu schmeißen. Selbstfürsorge ist ein Luxus, den sich vor allem Mütter selten leisten können, da sie nach wie vor die meiste Care-Arbeit leisten. 

Mit dem Gleichbehandlungsgesetz 1979 und dem Bundes-Gleichbehandlungsgesetz 1993 sollte in Österreich das antiquierte Frauenbild aufgebrochen werden. Allerdings sind nach einem halben Jahrhundert immer noch weite Teile der Gesellschaft in den veralteten Rollenbildern verhaftet. Das patriarchale Frauenbild feiert bereits ein trauriges Comeback – zum Beispiel mit den sogenannten Herdprämien in schwarz-blau regierten Bundesländern.

Die Soziologin Frigga Haug schlägt dagegen eine 4-in-1-Perspektive vor, nach der jedem Menschen pro Tag je vier Stunden für Erwerbsarbeit, Reproduktionsarbeit, Kultur und gesellschaftspolitisches Engagement zur Verfügung stehen sollen. Aber auch die Reduzierung der Arbeitszeit um 25 Prozent hat bereits regenerative Effekte, wie eine Studie zeigt: Menschen fühlen sich ausgeruhter und schlafen besser – das beugt Stress, Burn-out und Depressionen vor. 

Win-Win-Situation für beide Seiten

Diverse Arbeitszeit-Experimente, z.B. in Island, in Schweden oder in Großbritannien mit einer Vier-Tage-Woche oder mit einem Sechs-Stunden-Tag kommen auf das gleiche Ergebnis: Kürzere Arbeitszeiten fördern die die allgemeine Wertschätzung des Arbeitsplatzes, was sich positiv auf die Produktivität und Personalbindung auswirkt!

Weniger arbeiten und mehr Zeit zum Leben zu haben, liegt also nicht nur im Interesse der Lohnabhängigen. Trotzdem haben die Vertreter:innen von Industrie und Wirtschaft ein anderes Patentrezept: Flexibel sein, länger arbeiten und später in Pension gehen. Wobei schon jetzt viele bis an ihr absolutes Limit und darüber hinaus arbeiten. Im Jahr 2023 sind 180 Millionen Mehr- und Überstunden ausgewiesen – mehr Vierte davon unbezahlt. Auch davon sind Frauen deutlich stärker betroffen als Männer. 

Aber auch die Sozialdemokratie ist gespalten. “Die Bablers” setzen auf Arbeitszeitverkürzung, “die Doskos” auf Mindestlohn. Warum sie beides gegeneinander ausspielen und nicht als “siamesische Zwillinge der Arbeiter:innenbewegung” sehen, bleibt ihr Geheimnis.

Arbeitszeitverkürzung jetzt!

Die 40-Stunden-Woche ist überholt. Es braucht eine kürzere Wochenarbeitszeit, eine 30-Stunden-Woche oder eine Vier-Tage-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich. Das führt aber noch nicht automatisch zu einem höheren Anteil an Männer bei der unbezahlten Care-Arbeit. Dafür braucht es auch entsprechende Bewusstseinsbildung!

Ohne ÖGB und Gewerkschaften, die dafür mobilisieren und kämpfen, wird weder der Wahnsinn längerer Arbeitszeiten (z.B. durch die Erhöhung des gesetzlichen Pensionsanfallsalter) noch das patriarchalen Frauenbild (z.B. durch sogenannte Herdprämien) überwunden werden. Und dieses Ziel ist nicht unerreichbar: In Spanien wird gerade das “Recht auf Abschalten“ gestärkt und die gesetzliche Wochenarbeitszeit von 40 auf 37,5 Stunden gesenkt.

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