Kontroverse Ansichten
Emmerich Tálos zur Debatte über das Arbeitslosengeld
Mit der aktuellen Corona-Pandemie gingen enorme soziale Probleme einher. Im Frühjahr 2020 erreichte die Arbeitslosigkeit das höchste Niveau in der zweiten Republik.
Wie sehr Arbeitslose armutsgefährdet sind, zeigte eine jüngste Untersuchung: bei drei von vier befragten Arbeitslosen reicht das Geld hinten und vorne nicht, 97 Prozent der befragten Arbeitslosen müssen mit einem Einkommen unter 1.400 Euro auskommen.
Dies macht deutlich, wie unverzichtbar der österreichische Sozialstaat für unsere Gesellschaft ist. Angesichts der prekären Arbeitsmarktsituation und des zunehmenden Verarmungsrisikos zeigt sich die Notwendigkeit der sozialen Absicherung im Fall der Arbeitslosigkeit.
Zugleich wird aber auch deren Reformbedürftigkeit offenkundig: Das derzeitige Arbeitslosengeld und die Notstandshilfe sind für viele Betroffene nicht ausreichend, schützen vor Verarmung nicht. Wie Problemen in der Arbeitslosenversicherung begegnen werden kann, darüber gibt es in der aktuellen Diskussion kontroverse Ansichten.
Wachsende Armutsgefahr
Vor dem Hintergrund der enorm angestiegenen Erwerbslosigkeit, insbesondere der Langzeiterwerbslosigkeit und der damit verbundenen Armutsgefährdung wurde von Aktivisten zivilgesellschaftlicher Organisationen, Betriebsräten, Gewerkschafts- und Arbeiterkammerfunktionären, Gemeinderäten und Sozialwissenschafter*innen der Ruf nach einer Verbesserung der sozialen Sicherung von Arbeitslosen auf dem Weg eines Volksbegehrens erhoben.
Einen Kernpunkt stellt dabei die Anhebung des Arbeitslosengeldes und der Notstandshilfe auf mindestens 70 Prozent dar. Daran ist ersichtlich: Es geht heute nicht nur darum. dass Leistungen nicht gekürzt werden. Zentral ist, dass die Nettoersatzrate, und damit das Arbeitslosengeld angehoben und die Zumutbarkeitsbestimmungen entschärft werden.
Es geht also um eine reale Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Arbeitslosen, wozu auch Maßnahmen wie eine Arbeitszeitverkürzung und der Ausbau der aktiven Arbeitsmarktpolitik beitragen.
Degressives Modell
Gänzlich andere Vorstellungen propagierten die WKÖ und der ÖVP Wirtschaftsbund ebenso wie der Arbeitsminister und der AMS Vorstand. Neben der Einschränkung oder überhaupt Abschaffung von Zuverdienstmöglichkeiten (im Fall geringfügiger Beschäftigung) bildet einen Kernpunkt dabei die Änderung der Arbeitslosenversicherung entlang eines degressiven Modells – basierend auf neoliberalen Kürzungsvorstellungen.
Danach soll nach einer kurzen Zeit der Anhebung der Nettoersatzrate von 55 auf 70 Prozent eine schrittweise Kürzung bei Andauer der Arbeitslosigkeit auf 40 Prozent erfolgen – mit dem angeblichen Ziel, Anreize für die Betroffenen zu schaffen. Betroffen von der substantiellen Verschlechterung der materiellen Sicherung von Arbeitslosen sind in erster Linie Langzeiterwerbslose. Zugleich sollen die Zumutbarkeitsbestimmungen verschärft werden: durch Verlängerung der Wegzeit und durch einen Vermittlungszwang in ganz Österreich.
Worum geht es?
Es geht um eine Verschiebung der Debatte über die Folgen der Pandemie für den Arbeitsmarkt mit dem Faktum der Massenarbeitslosigkeit hin zu einer Debatte um unterstellte Arbeitsunwilligkeit. Diese Debatte ist nicht neu. Sie wurde in den 1980er Jahren nach Ende der Vollbeschäftigungssituation insbesondere von Krone Journalisten wie Staberl geführt.
Anders als behauptet geht es bei derartigen neoliberalen Vorstellungen nicht um Anreize für, sondern um Druck auf Arbeitslose, um einen Druck zur Annahme schlechter Jobs – wie das deutsche Beispiel von Hartz IV eindrücklich zeigt.
Was zu befürchten war, zeigt sich aktuell sehr deutlich: Die Krise wird für Unternehmerorganisationen und deren politische Vertretung zu einem Sprungbrett für Druck und Leistungskürzungen: Das degressive Modell läuft auf eine massive Leistungskürzung vor allem für Langzeitarbeitslose hinaus.
Spaltung der Gesellschaft
Ein Forschungsprojekt über Langzeitarbeitslosigkeit aus den 1990er Jahren hat deutlich gemacht: je länger die Arbeitslosigkeit andauert, desto größer wird das Armutsrisiko. Deutlich ist auch heute: geringes Arbeitslosengeld schafft Arme, aber keine Arbeitsplätze. Die Spaltung in der Gesellschaft wird größer.
Der Vermittlungsdruck steht der wiederholten Forderung nach einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie entgegen: wie soll eine Vereinbarkeit möglich sein, wenn beispielsweise der steirische Kellner/die Kellnerin gezwungen wird, einen Job in Tirol oder Vorarlberg anzunehmen?
Der Arbeitsminister hat angekündigt, dass es im Frühjahr 2022 eine „Reform“ der Arbeitslosenversicherung geben wird – wobei voraussichtlich eine derartige „Reform“ nicht auf eine Verbesserung, sondern auf eine Verschlechterung der sozialen Bedingungen von Arbeitslosen hinauslaufen wird. Ein erfolgreiches Volksbegehren wäre ein wichtiger Schritt, um den Kürzungsvorstellungen gegenzuhalten.
Emmerich Talos ist Politikwissenschaftler und Autor zahlreicher Publikationen über die Sozialpartnerschaft