Kapitalistische Normalität
Von September 2022 bis Februar 2023 gab es in Österreich jeweils zweistellige Inflationsraten. Im ersten Halbjahr 2023 schwankte die Teuerungsrate gemessen am Verbraucherpreisindex (VPI) zwischen 11,2 und 9 Prozent.
Der Index des Mikrowarenkorbs, der den täglichen Einkauf – also im Wesentlichen die Preisentwicklung der Nahrungsmittel – widerspiegelt, fiel zwar von 16,8 Prozent im Jänner 2023 auf 12,8 Prozent im Mai und verharrt noch immer im zweistelligen Bereich. Der wichtigste Bereich im Warenkorb des VPI – Wohnen, Wasser, Energie – beläuft sich im Jahresdurchschnitt 2023 bei fast 20 Prozent.
Seit 70 Jahren gab es in Österreich keine Phase mit so hohen Teuerungsraten. Selbst in der Erdöl- und Energiekrise der 1970er Jahre blieben die Inflationsraten einstellig. Gleichzeitig wiesen die zwanzig größten im Börsenindex ATX vertretenen Konzerne für 2022 mit zehn Milliarden Euro Rekordgewinne und mit drei Milliarden Euro Rekorddividenden aus.
Mag die durch die Energiepreise und die durch die Pandemie unterbrochenen Lieferketten verteuerten Vorprodukte als „importierte Inflation“ als Anstoß für die galoppierende Inflation gewirkt haben, so hat sich die Teuerungswelle nur wenig später in eine hausgemachte verwandelt. Das Momentum-Institut, aber auch die Nationalbank haben berechnet, dass der Anteil der Profite an der aktuellen Teuerung bis zu etwa zwei Drittel ausmacht. Österreichische Unternehmen haben auf breiter Front nicht nur die erhöhten Kosten weitergegeben, sondern in beträchtlichen Ausmaß ihre Profitmargen erhöht. Deshalb ist es gerechtfertigt die Inflation als eine Profit-Preis-Spirale zu über- setzen.
Es ist positiv, dass die Gewerkschaften zumindest verbal diese Erkenntnis aufgenommen haben und sich nicht mehr, so ist zu hoffen, von der „Gefahr“ einer Lohn-Preis-Spirale, wie sie die Unternehmerverbände bei jeder Lohnverhandlung in der Vergangenheit und auch heute konstruieren, einschüchtern lassen.
Es gab und gibt seitens der Regierung bis heute keinen politischen Willen, die Teuerung in der Inflationskrise, wirksam zu bekämpfen. Dafür sind vornehmlich zwei Gründe zu nennen. Erstens haben nicht nur die Regierungsparteien, auch wenn sie manchmal das Gegenteil behaupten, die neoliberalen Dogmen von den segensreichen Marktkräften internalisiert und können sich das Funktionieren der Wirtschaft mit Eingriffen in die Profit-Preis-Spirale kaum mehr vorstellen. Und wenn doch, dann nur um den Preis des Ersatzes der entgangenen Profite bzw. Überprofite aus Steuermitteln.
Der zweite Grund besteht darin, dass der Staat zu den Gewinnern der Inflation gehört. Jede Preiserhöhung führt zu Mehreinnahmen aus der Mehrwertsteuer. Jede inflationsbedingte Erhöhung der Lohneinkommen führt auch ohne kalte Progression zur Erhöhung der Lohn- und Einkommensteuer. Außerdem entwertet die Inflation jenseits von deren nominellem Wert die Staatsschulden.
Erforderlich wäre, die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel, solange die hohen Inflationsraten bestehen, zumindest zeitweise auszusetzen und auf Mieten, Betriebskosten und Heizenergie prinzipiell abzuschaffen. Eine aktive Lohnpolitik in Zeiten galoppierender Inflation müsste die Laufzeit von Kollektivverträgen verkürzen. Das müsste übrigens auch für die bisher jährliche Pensionsanpassung gelten. Eine solche Einkommenspolitik ist auch das wirksamste und nachhaltigste Gegenmittel zur Politik der Regierung und der Unternehmerverbände, die sich durch almosen- hafte Einmalzahlungen aus dem Staub machen wollen.
1992 wurde nach Auslaufen der Paritätischen Kommission, dem seinerzeitigen Kernstück der institutionellen Sozialpartnerschaft, im Parlament das Preisgesetz beschlossen. Dieses gibt der Behörde (der Regierung oder dem zuständigen Ministerium) die Handhabe, unter bestimmten Umständen und Voraussetzungen volkswirtschaftlich gerechtfertigte Preise, die auch die jeweilige wirtschaftliche Lage der Verbraucher und Leistungsempfänger beinhaltet, für einen bestimmten Zeitraum, sogar bis hin zu einem Preisstopp, zu verordnen.
Vorsorglich wurden elektrische Energie und Erdgas von dieser Möglichkeit ausgenommen, die ja bekanntlich aneinander gekoppelt sind. Ein Vorstoß der Arbeiterkammer, etwa den Benzinpreis über die Preiskommission zu regulieren, ist gescheitert, da sich dieser nicht signifikant vom internationalen Trend abgekoppelt habe, was laut Gesetz eine nationale Preisregulierung ausschließt. Außerdem hat noch niemand versucht, die nicht geregelten Mieten unter das Preisgesetz zu zwingen. So ist bislang das Preisgesetz fast immer totes Recht geblieben und geht es nach den herrschenden Dogmen der Wirtschaftspolitik, soll es auch so bleiben.
Michael Graber ist Volkswirt und Bundesobmann des Zentralverbandes der Pensionist:innen