Gesundheit schmälert den Profit?
Unter dem Subtitel „Viel Gerede, wenig Besserung?“ publizierte der Autor dieses Artikels vor mehr als einem Jahrzehnt anlässlich der sogenannten „Hundstorfer-Novelle“ des Arbeitnehmer:innenschutzgesetzes einen vorsichtig-optimistischen Artikel zur Evaluierung psychischer (Fehl-)Belastungen am Arbeitsplatz. Besteht im Jahr 2024 noch Grund für diesen einst wohl eher jugendlicher Naivität geschuldeten Optimismus?
Die „Hundstorfer-Novelle“ des AschG
Eine im April 2012 im Auftrag der AK Wien publizierte Studie hatte bereits die drastischen Folgen der autoritären Entwicklung in den Betrieben aufgezeigt. So sahen sich zum Zeitpunkt der Befragung 30,2 Prozent aller unselbstständig Beschäftigten einer erhöhten Belastung durch Überbeanspruchung und Zeitdruck ausgesetzt. In puncto Arbeitsintensität lag Österreich schon damals im Spitzenfeld der alten EU-15 Mitgliedsstaaten. Männer waren stärker betroffen als Frauen, wobei Akademiker:innen deutlich am Gipfel der – volkstümlich ausgedrückt – „geistigen Überbeanspruchung“ standen. 32 Prozent aller Neuzugänge in die Berufsunfähigkeits- und Invaliditätspensionen waren bereits aus psychischen Gründen erfolgt. Übrigens: Heute ist die Datenlage dazu völlig unzureichend.
Damals wie heute folgerichtig hatte das Arbeits- und Sozialministerium unter Bundesminister Rudolf Hundstorfer mit einer Novelle des Arbeitnehmer:innenschutzgesetzes (AschG) auf die Entwicklungen reagiert. Seit 1. Jänner 2013 war endlich klargestellt, dass die Arbeitsplatzevaluierung im Bereich der Gefahren auch die psychischen (Fehl-)Belastungen zu umfassen hat. Explizites Ziel des Gesetzgebers war es, das Thema verstärkt in die betriebliche Diskussion zu bringen und es vor Ort in den Betrieben konkret zu lösen.
Verhinderte Gesundheitsförderung
Die rasante Zunahme psychischer Belastungen am Arbeitsplatz hat viele Ursachen, gerade in Folge veränderter oder überhaupt fehlender Arbeitsorganisation. Es lohnt sich daher, verstärkt über diese Organisationsfragen nachzudenken. Nicht zielführend ist es, die Problematik alleine im Licht des bereits früher erfolgten Strukturwandels hin zur Dienstleistungsgesellschaft zu betrachten. Mindestens genauso relevant sind die immer stärkere Arbeitsverdichtung, der ständig steigende Kosten- und Erfolgsdruck auf die Beschäftigten. Kurz gesagt: Die Folgen der Profitmaximierung auf den einzelnen Menschen innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems zeigen sich beim Arbeitsmittel Psyche.
Fragen der Arbeitsorganisation stellen sich in allen Einheiten menschlichen Zusammenwirkens, unabhängig von deren Größe. Es liegt auf der Hand, dass weitläufigere Strukturen tendenziell mehr Steuerung, Adaptierung und Reflexion – somit prozessualen Aufbau – benötigen. Das beginnt beim kleinen Projekt und endet ganz global.
Zwar werden alternative Formen von Arbeitsorganisation und der Produktionsstrategien spätestens seit den 1980er Jahren intensiv diskutiert. Auch betriebswirtschaftlich sinnvolle Umsetzungsmöglichkeiten scheitern in der betrieblichen Praxis viel zu oft an fehlendem Demokratieverständnis beim Top-Management und mangelndem Einfluss der Belegschaft auf die konkrete Gestaltung des Arbeitsplatzes. Der Blick von unten kann sich gegen die gut organisierte Bürokratie des Überbaus nicht durchsetzen. Sozialpartnerschaftliche Zugänge finden für dieses Problem keine überzeugenden Antworten.
Trotzdem hat die Gesetzgeberin den konkreten Schutz der psychischen Gesundheit weitgehend auf die betriebliche Praxis verlagert: Psychische Belastungen am Arbeitsplatz müssen evaluiert werden, Maßnahmen fallen aber nicht vom Himmel. Was tatsächlich seit dem Jahr 2013 tatsächlich in den Betrieben passiert ist, können Betriebsratsvorsitzende relativ gut einschätzen. Was sagen sie uns?
Das Kind beim Namen nennen
In 252 befragten Betrieben mit errichtetem, gewerkschaftlich organisierten Betriebsratskörperschaften wurde der Novelle in 84 Prozent der Fälle der Form halber Genüge getan: Die Psyche am Arbeitsplatz wurde gesetzeskonform evaluiert. Jedoch wurden nur in acht Prozent der Betriebe mittels Maßnahmen tatsächlich deutliche Verbesserungen erzielt. Dem stehen 34 Prozent gegenüber wo die Novellierung gar keine Verbesserungen gebracht hat. Nur geringe Verbesserungen in ihrem jeweiligen Betrieb sehen 28 Prozent, gewisse Verbesserungen 29 Prozent der Betriebsratsvorsitzenden. Diese Antworten erfolgten fünf Jahre nach der klaren Aufforderung der Gesetzgeberin an die Unternehmen, sehr konkret etwas zu tun.
Im Wissen, dass hier die äußerst ernüchternden Ergebnisse einer Mitbestimmungselite erfragt wurden – die Mehrheit der Arbeitnehmer:innen hat gar keinen Betriebsrat – lässt sich feststellen: Der Schutz psychischer Gesundheit an unseren Arbeitsplätzen funktioniert nicht.
Praxis bestätigt Sozialwissenschaft
Der US-Soziologe Richard Sennett konstatiert die Veränderungen als „neuen Kapitalismus“, dem System der Kapitalisierung aller Lebensbereiche und laufender Gewinnmaximierung. Hirnforscher Joachim Bauer sieht Arbeit zu einem Diktat degradiert und realisiert, dass „Instabilität und Umstrukturierungen zu einem Selbstwert geworden“ sind. Nachsatz: „Permanente Unruhe gilt da als Qualitätsmerkmal – inklusive Personalwechsel.“ Wenig überraschend haben Birgit Mahnkopf und Elmar Altvater bereits zu Beginn der 2000er Jahre auf dieses „Plattmachen“ unseres Geistes in der prekären Arbeitswelt hingewiesen.
Die Gewerkschaftsbewegung als Ganzes ist gut beraten, wenn sie diese gesundheitlichen Warnzeichen ergänzend zur stark gestiegenen Produktivität und der rasanten Automatisierung zum Anlass für ernstzunehmende Forderungen nach kräftiger Arbeitszeitverkürzung nimmt. Selbstverständlich darf dies nur bei vollem Lohn- und Personalausgleich erfolgen. Der Schlüssel dafür liegt in der gleichzeitigen Verbesserung der Arbeitsorganisation durch echte Demokratie – nicht nur schale Mitbestimmung – im Betrieb. Denn derzeit erfolgt die Arbeitszeitverkürzung meistens zu finanziellen Lasten der Beschäftigten, sei es auf Ebene der individuellen Dienstverträge oder kollektivvertraglich in Form von Freizeitoptionen gegen teilweisen Entfall von Lohnerhöhungen.
Die Staatsbürokratie kennt die Probleme
Im Merkblatt des Ministeriums werden von Beginn an psychische Belastungen definiert sowie einige Maßnahmen empfohlen, welche durch die Betriebe durchgeführt werden können. So heißt es: „Typische arbeitsbedingte psychische Belastungen die zu Fehlbeanspruchungen führen sind z.B. häufige Arbeitsunterbrechungen durch Mängel in der Arbeitsorganisation, fehlende Qualifikation bzw. Erfahrung, mangelhafte soziale Unterstützung und Anerkennung durch Vorgesetzte bzw. Kolleg/innen, Arbeitszeiten mit zu wenig Planungsmöglichkeiten, monotone Tätigkeiten, zu geringe Abwechslung, widersprüchliche Ziele und Anforderungen.“
Wenig überraschend haben sich in der postfordistischen Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts die Widersprüche verschärft, deren Auswirkungen in den Betrieben täglich erlebt werden können. Viel zu oft haben Privatisierungen, lange Verantwortungsketten, Pseudoanonymität, fehlende politische Verantwortungsübernahme und Ausgliederungen genau jenes Arbeitsklima geschaffen, das die Hauptschuld an erhöhten psychischen Fehlbelastungen trägt und in Folge zu vermeidbaren Erkrankungen führt. Vereinzelte Symptombekämpfung greift viel zu kurz, es muss ein humanistisch-demokratischer Systemwechsel im Denken und Handeln unserer Gesellschaft ausgelöst werden. Individuelle Betreuung durch Arbeitspsychologie oder soziale Benefits als Ergebnisse vieler Evaluierungsmaßnahmen beseitigen die Ursachen der Probleme bei weitem nicht.
Typisch für unser Land sind Angebote ohne rechtliche Verbindlichkeit, wie die ArbeitsBewertungs-Skala der AUVA. Die Kontrolle der Einhaltung der Evaluierung psychischer Belastungen liegt bei den Arbeitsinspektoraten. Mit der Zusammenlegung des Arbeits- und Wirtschaftsministeriums unter Bundesminister Martin Kocher besteht wenig Hoffnung auf einen verbindlichen Plan zur Gesundheitsförderung, den die Unternehmen tatsächlich verbindlich und im Interesse der Gesundheit von arbeitenden Menschen umsetzen müssen.
Kollektive Gegenwehr
Klar ist: Es hängt viel vom Engagement der Beschäftigten ab, damit die Gesetzesnovelle überhaupt in den Betrieben ankommt. Verbesserungen müssen gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen erkämpft werden. Hier gilt es in möglichst vielen Betrieben konsequent Druck auf die Unternehmensleitung zu machen und Überzeugungsarbeit zu leisten. Gerade in multinationalen Konzernen oder bereits vollständig digitalen Betrieben (Stichwort Crowdwork) kann dieser Druck nicht alles lösen. Der Erhalt psychischer Gesundheit am Arbeitsplatz funktioniert nur durch verbindliche Maßnahmen, die notfalls mit hohen Strafen konsequent im Interesse der ganzen Gesellschaft durchgesetzt werden.
Wir sprechen viel über Datenschutz. Im Fall der DSG-VO wurden Konzerne tatsächlich bereits zu, innerhalb kapitalistischer Normen, empfindlichen Strafzahlungen verurteilt. Nationale Datenschutzbehörden unterstützen die Umsetzung der Verordnung aus dem Unionsrecht. Sogar der Konsument:innenschutz hat von der DSG-VO profitiert, weil die rechtliche Souveränität über die eigenen Daten einige Geschäftsmodelle unattraktiver gemacht hat.
Weshalb keine echte Gesundheitsschutzbehörde und eine effiziente europäische Gesundheitsverordnung schaffen, die diesen Namen verdient und die arbeitenden Menschen im Fokus hat? Es ist möglich, aber bleibt eine Frage der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse.
Ewald Magnes ist Angestellter bei UniCredit Services und GLB-Kandidat bei der Arbeiterkammerwahl in Wien
Quelle: Volksstimme 4/2024