Gegenmacht im neoliberalen Kernland
Stefanie Breinlinger über die Streikbewegung bei der britischen Bahn
Im Juni sorgte die britische Transportarbeiter-Gewerkschaft RMT (National Union of Rail, Maritime and Transport Workers) für die größte Streikbewegung in Großbritannien seit Jahrzehnten.
Eine Woche lang legten die Eisenbahner*innen den Zugverkehr in England, Schottland und Wales lahm. An einem Tag war auch die Londoner U-Bahn zum Stillstand gezwungen.
Die Gründe für den Ausstand bestehen in Angriffen auf die Arbeitsplätze und Infrastruktur der Eisenbahn in Großbritannien. Als hätte man aus den noch gar nicht so lange vergangenen Desaster der Privatisierungen und Deregulierungen der britischen Bahn nichts gelernt.
Diese zogen eine dramatische Steigerung von Zugunglücken mit zahlreichen Todesfällen aufgrund von gravierenden Sicherheitsmängeln nach sich. Trotz allem plant die Regierung Einsparungen in der Höhe von vier Milliarden Pfund.
Desaster der Privatisierung
Diese Kürzungen sollen ausgerechnet dadurch realisiert werden, indem die Hälfte aller Sicherheitsüberprüfungen bei der Eisenbahninfrastruktur eingestellt werden. Die Einsparungen laufen zudem auf 2.500 Kündigungen hinaus. Laut RMT droht jedem Fahrkartenschalter die Schließung. Gleichzeitig zahlten die Bahnkonzerne rund 800 Millionen Pfund an ihre Aktionäre aus.
Der Kampf um Arbeitsplatz-Sicherheit und den Erhalt der wertvollen Eisenbahn-Infrastruktur sind wichtige Streikziele, die dem ganzen Land dienen. Die Gewerkschaft kämpft aber ebenso entschlossen für Lohnerhöhungen – entgegen dem Angebot des Arbeitgebers von nur drei Prozent.
Denn der Streik ist auch eingebettet in den Kampf gegen die „Lebenshaltungskosten-Krise“ („cost of living crisis“). In London fand dazu eine große Demonstration mit 50.000 Arbeiter*innen des Gewerkschaftsbundes TUC statt. Bis zum Herbst sind Teuerungen von bis zu elf Prozent prognostiziert.
Klare Mehrheit für Streik
Angesichts dieser dramatischen Entwicklung stimmte bei einer Wahlbeteiligung von 71 Prozent die überwältigende Mehrheit (89 Prozent) der 40.000 RMT-Mitglieder für den Arbeitskampf.
Der Streik erstreckte sich über alle privaten Eisenbahnkonzerne sowie die staatliche Eisenbahn-Infrastruktur-Gesellschaft Network Rail, also über insgesamt 15 Konzerne. Zugbegleiter*innen, Beschäftigte an britischen Bahnhöfen und Arbeiter*innen in der Signal-Infrastruktur, schlossen sich dem Streik an.
Im Zuge des Streiks erlebten die britischen Gewerkschaften erhöhte Aufmerksamkeit und einen Anstieg der Beitritte. Im ganzen Land gab es Solidaritätskundgebungen mit dem Kampf der RMT von Aktivist*innen verschiedener sozialer Bewegungen und Gewerkschaften.
Seitens Medien und Politik ist die Gewerkschaftsführung indes heftigen öffentlichen Anfeindungen ausgesetzt. Das Establishment strengt Versuche des Ausspielens der Eisenbahner*innen mit anderen Beschäftigten-Gruppen wie Pflegekräften an.
Neues Klassenbewusstsein
Auch die Labour Partei unter Keir Starmer rief gegen eine Solidarisierung mit dem Streik auf. Hinter den Angriffen steckt die reale Befürchtung von Kapitalvertretern und Regierung, dass die RMT die Weichen für neue Arbeitskämpfe im ganzen Land stellt.
Die Strategie des Kapitals, einen Keil zwischen die Lohnabhängigen zu treiben, scheint sich jedoch immer mehr ins Gegenteil zu verkehren. Die britischen Arbeiter*innen sind dabei, ein neues Klassenbewusstsein zu entwickeln – ungeachtet von Branchen- Grenzen.
Urabstimmungen stehen an
Tatsächlich stehen den Mitgliedern einiger Gewerkschaften Urabstimmungen bevor: Bei der Gewerkschaft der Transport- und Industriearbeiter*innen Unite, bei der Verkehrsgewerkschaft TSSA, bei der Lokführer*innen-Gewerkschaft ASLEF, der Post- und Kommunikations-Gewerkschaft CWU, bei der Gewerkschaft der Lehrer*innen NEU, bei der Gewerkschaft des Gesundheitsbereichs UNISON sowie im öffentlichen Dienst.
Angesichts von Lohn-Stagnation und der „cost of living crisis“ steigt jedenfalls die Wahrscheinlichkeit, dass sich Angehörige anderer Berufsgruppen ein Beispiel am Arbeitskampf der RMT nehmen und ebenfalls ihre Rechte im Wege von Streiks einfordern werden.
Stefanie Breinlinger ist Sozialarbeiterin bei FAB Linz und GLB-Landesvorsitzende OÖ