Anwachsen zur Massenbewegung
Stefanie Breinlinger über die Proteste gegen das Pensionsdiktat in Frankreich
Am 20. März 2023 boxte Präsident Macron per Dekret das umstrittene Pensionsgesetz durch – ohne Abstimmung in der Nationalversammlung. Elisabeth Borne, Ministerpräsidentin von Macrons Regierung, überlebte nur ganz knapp zwei Misstrauensvoten im Parlament.
Laut Umfragen sind zwei Drittel der französischen Bevölkerung sowie 90 Prozent der Beschäftigten gegen die Erhöhung des Pensionsalters von 62 auf 64 Jahre, benachteiligt es doch Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und erhöht die Arbeitslosigkeit von Menschen ab 55 Jahren drastisch. Frauen wären besonders betroffen vom Pensionsgesetz. Die Chancen, gesunde Jahre in der Pension verbringen zu können, schwinden damit weiter.
Die Wut der Bevölkerung entlud sich nach der Parlamentssitzung, in Paris brannten daraufhin abends die Müllberge. Denn durch die Streiks der Müllabfuhren in mehreren Städten türme sich der Müll, Ratten werden davon angezogen. Bestreikte Raffinerien liefern keinen Treibstoff mehr, Tankstellen schließen. Streiks bei den Verkehrsbetrieben lassen nur einen eingeschränkter Betrieb zu.
Gewerkschaften führen Protestbewegung an
Monatelang dauern die Proteste mit Demonstrationen, Streiks und unabhängigen Protest-Aktionen bereits an. An der Spitze der Proteste stehen die Gewerkschaften: Die Intersyndicale vereint die acht großen Gewerkschaften – die drastische Lage führte zum für französische Verhältnisse ungewöhnlichen Bündnis.
Die Menschen versammelten sich an mehreren Protesttagen: Am 7. März waren drei Millionen Menschen auf der Straße, 700.000 allein in Paris. Am 23. März haben wieder mehr als drei Millionen Menschen ihre Wut auf das Pensionsdiktat von Präsident Macron auf der Straße Ausdruck verliehen. Am 28. März fand bereits wieder ein landesweiter Streik statt.
Vom Pensionsprotest zur Massenbewegung
Der Protest weitet sich aus und hat inzwischen die Form einer Massenbewegung angenommen, die den Rück- tritt von Macron fordert. Die Jugend solidarisiert sich zunehmend mit den Lohnabhängigen. Schüler*innen besetzen Schulen und Studierende Universitäten. Ende März waren 450 von 2.000 Lyceés besetzt. Schüler*innen sind in der Schüler*innen-Gewerkschaft La Voix Lycéenne organisiert. Ihr Vorsitzender, Manès Nadel betont es sei ihr Ziel, dass sie „auch immer mehr sind, die zu den Streikposten gehen und den Arbeitern helfen, zum Beispiel Raffinerien zu blockieren“ (Junge Welt, 29.3.2023).
Das offizielle Frankreich reagiert mit brutaler Repression, hunderte Menschen wurden festgenommen, Polizeigewalt ist an der Tagesordnung – wie zahllos in den Sozialen Medien dokumentiert ist. In Paris erledigt eine 200-köpfige Motorrad-Brigade Macrons den schmutzigen Auftrag der Aufstandsbekämpfung und verprügelt Demonstrant*innen. In seiner letzten Amtszeit hat es sich der Präsident offensichtlich zum Ziel gesetzt, soziale Verschlechterungen – die ihm bisher nicht gelungen sind – mit aller Härte und zu jedem Preis noch durchzusetzen.
Macron verliert auf der Straße und vor Gericht
Am 5. April ging ein Treffen zwischen Gewerkschaftsvertretern der „Intersyndicale“ mit Premierministerin Elisabeth Borne ergebnislos zu Ende, weil diese auf dem Rentengesetz beharrte. Am 6. April trugen daraufhin die Menschen die Proteste in 370 Städte des Landes. Einige aufsehenerregende Aktionen wurden organisiert: Eisenbahner*innen besetzten die Blackrock-Zentrale in Paris, CGT-Mitglieder blockierten die Autobahn in Lyon mit Barrikaden, in Bordeaux besetzten 400 Lehrer*innen das Zentral-Rektorat.
Zugleich errangen die streikenden Arbeiter*innen der größten Raffinerie im normannischen Gonfreville (Total) einen wichtigen juristischen Erfolg mit Signalwirkung für andere Branchen: Das Gericht verbot in seiner Entscheidung, dass die Regierung Raffinerie-Arbeiter*innen zwangsrekrutiert, wie es bereits zwei Wochen geschehen ist – mit der Begründung eines unzulässigen Eingriffs ins Streikrecht.
Die linke Opposition arbeitet an einem Referendum gegen die Pensionsverschlechterungen. Am 14. April entscheidet das Verfassungsgericht über die Zulässigkeit der Beschlussfassung des Rentengesetzes – das Ergebnis lag zu Redaktionsschluss noch nicht vor.
Die neugewählte CGT-Chefin Sophie Binet zeigt sich entschlossen: „Macron setzt seine brutale Repression fort und hebelt die Demokratie weiter aus. (…) Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, lasst uns die Maßnahmen ausweiten, um zu gewinnen!“ (Junge Welt, 06.04.2023).